Sabine schämt sich für ihre Reiterhosen.
Corinnna schämt sich für die grossen Plattfüsse.
Marie schämt sich für den grossen Hintern.
Nelly schämt sich für den kleinen Busen.
Gabriele schämt sich für die grosse Nase.
Karin schämt sich, weil sie Brustkrebs hat.
Rosalie schämt sich, weil sie einen Bauch hat.
Frauen schämen sich.
Frauen schämen sich für Dinge, für die sie nichts können.
Frauen schämen sich für schiefe Zähne und brüchige Knochen.
Frauen schämen sich für dünne Haare und grosse Ohren.
Sabine wurde als Baby in die Spreizhose gesteckt. Ihr Körper machte genau das, was von ihm verlangt wurde.
Corinna ist sehr gross, da sind halt auch die Füsse gross. Und die Plattfüsse kommen daher, dass sie sich kleiner machen wollte, um nicht so aufzufallen.
Maries Hintern ist prachtvoll.
Nellys Busen ist hübsch.
Gabrieles Nase ist richtig schön und passt in ihr Gesicht.
Karin hat nie geraucht, sich immer gut ernährt, sich viel bewegt. Brustkrebs kommt in ihrer Familie oft vor, sie ist ganz klar genetisch vorbelastet.
Rosalie hat vier Kinder. "Die hat Heidi Klum auch, schau sie mal an, die schafft das ohne Mutterbauch."
Touché. Rosalie hat mich. Ich schäme mich für meine hässlichen Beine, für mein schlaffes Gewebe.
Sharon Stone und Demi Moore und Madonna haben das nicht.
Vernunft sagt vernünftige Dinge.
"Schönheit ist deren Beruf."
"Die arbeiten einen Bruchteil von dem, was du malochst. Die sind reich. Die können sich Köche leisten, Personal Trainer, die können sich täglich stundenlang nur ihrem Aussehen widmen."
Eine Gegenstimme sagt: "Wie langweilig."
Die Stimme der Vorwürfe unterstützt die Scham.
"Du isst zuviel."
"Du trinkst zu gerne Rotwein."
"Du hast einfach zuwenig Disziplin."
"Du müsstest jeden Tag laufen. Viel mehr trainieren."
Und so weiter und so fort.
Früher, als ich mich auf solche Monologe noch einliess, da endeten sie in den Sackgassen.
Bin einfach nicht gut genug.
Nicht schön genug.
Nicht fleissig genug.
Oder:
Ich bin zu anspruchsvoll.
Ich bin zu kompromisslos.
Ich bin zu neurotisch.
Ich bin zu hässlich.
Ich bin zu dumm.
Das haben wir mal gehört und gespeichert, nicht schön, nicht gut, nicht gescheit, nicht diszipliniert.
Bestimmt. Anders wäre es nicht in unsere Köpfe geraten.
"Ich schäme mich dafür, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, in der Zähne nicht wichtig waren", berichtet eine Freundin, "die Kinder reicher Eltern hatten Zahnspangen und Kariesprophylaxe. Ich habe heute teure Implantate."
Ich schämte mich auch für meine Zähne. Und dafür, dass ich nicht studieren durfte.
Wir sind die Töchter der Scham.
Wir sind die Töchter der Zwischenmütter.
Der Mütter, die selbst nicht mehr in das Schema ihrer Mütter passten.
Die Zwischenmütter schämten sich dafür.
Wollten nicht mehr, was sie bekamen, wussten noch nicht, was sie wollten.
Die Zwischenmütter, die sich selbst nicht mehr und ihre Töchter noch nicht gebührend lieben konnten.
Wir haben den kritischen Blick geerbt. Wir haben ihn kultiviert. Wir haben ihn auf uns selbst gerichtet.
Ich arbeite seit Jahren daran: Bei schönen Beinen nicht neidvoll wegsehen, sondern hinschauen, geniessen, freuen, dass es das gibt.
Bei schönen Zähnen und schönen Haaren hinschauen, geniessen, freuen, dass es das gibt.
Es ist Sommer, ich habe gerade viel Gelegenheit.
Die jungen Frauen sind schön.
Sie sind unsere Töchter. (Ja, Ihre Töchter, ich habe ja keine. Shame on me, nicht mal das habe ich geschafft.)
Sie tragen den grossen Hintern mit Stolz und Lebensfreude. Den kleinen auch.
Den kleinen Busen. Den grossen Busen. Die kleine Nase. Die grosse Nase.
Gestern kam Laura, meine Nichte, 25, um ein paar Fotos zu machen, als Vorlage für eine Fotostrecke.
"Muss ich meine Achseln rasieren?"
Mir fiel ein, dass ich mich auch dafür schämte, dass mir Haare an Körperstellen wachsen, an denen nun mal Haare wachsen.
Laura kämmte sich die Haare mit den Fingern, band sie zu einem lockeren Dutt.
"Brauchst du Puder?", fragte Sandra, meine Schwester, die Lauras Mutter ist. Und die Tochter der gleichen Zwischenmutter wie ich.
"Nein", sagt Laura, "geht schon."
Sie zieht den Catsuit an, den ich ihr verpasse, geht in die Übungspositionen, freut sich, lacht, schaut sich die Fotos an, findet sich cool, ungeschminkt, unfrisiert, einfach schön.
Sie findet meinen Rock cool, findet mich cool, sagt, "du kannst diese Übung viel besser als ich, du bist schon sehr beweglich, wow, schau, wie schön du hier aussiehst, hey, das war ein toller Job ..."
Und ich meine, in diesem Augenblick zu verstehen, was ab geht: Morphologie. Evolution. Laura vergleicht nicht, Laura schaut nicht verstohlen hin, hat die etwas, was ich nicht habe, ist die schöner als ich, besser als ich, gescheiter als ich. Laura ist, wie sie ist. Sie ist die Tochter einer Mutter, die sie bestätigt hat, unterstützt hat, gestärkt hat. Sie ist die Tochter einer Mutter, die ihr sagte oder zeigte oder spiegelte, dass sie schön ist, klug ist, gescheit ist, liebenswert ist. Sie ist die Tochter meiner Schwester. Ich weiss, dass sie sich dieses Muttersein selbst angeeignet hat, denn mitbekommen hat sie das so nicht.
Also ist mein Schämen und Ihr Schämen ein morphisches Schämen, ein Auslaufschämen. Wer das kann, solche Töchter aufziehen, kann sich auch selber lieben. Einfach für sich in Anspruch nehmen, was die Töchter und Söhne erhalten. Erhalten haben. Erhalten werden.
Schamlos.
Ohne Scham leben. Muss gehen. So, wie ich ohne Schmerzen lebe. Üben. Dranbleiben. Jeden Tag ein bisschen besser machen. Und bloss nicht schämen, wenn's mal nicht klappt ...
Herzlich, Ihre BC
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